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Jie-Oun Lee

Erzählstrategien eines transdisziplinären Naturforschers

Zusammenfassung

In dieser vorliegenden Untersuchung habe ich versucht, mit den narratologischen Methoden die spezifische Erzählweise in Alexander von Humboldts Kosmos herauszufinden und sie auf ihre naturanschaulichen Implikationen hin zu deuten. Wir konnten im Kosmos einen Erzähler feststellen, den man in der Literaturwissenschaft als einen auktorialen Erzähler bezeichnen würde. Dieser Erzähler verwandelt sich im Laufe der Zeit in andere Erzählfiguren wie in die „denkende Betrachtung“, den „ordnenden Geist“ usw. Die Natur wird von ihrem Standpunkt aus erlebend beschrieben. In konkreten Textteilen tritt ein Textsubjekt auf, das sich mithilfe der „Analogien“, „Person als Authentizität“ und „modaler Werte“ als kompetentes Diskurs-Subjekt des jeweiligen naturwissenschaftlichen Bereichs konstituiert. Die erzählstrategischen oder epistemischen Stichworte im Kosmos sind naturwissenschaftliches Wissen, Experimente, Messen und Beobachten. Neben ihnen sind Analogie, Authentizität und modale Werte wichtige erzählerische Episteme.

Abstract

In this study, I tried to use narratological methods to find out specific narrative characteristics in Alexander von Humboldt’s Kosmos and to point them out to their view of nature. We were able to identify a narrator in Kosmos who would be called an ‘omniscient narrator’ in literary studies. In the course of time, this narrator transforms into other narrative characters such as ‘denkende Betrachtung’, ‘ordnenden Geist’ etc. Nature is described from its point of view. In concrete parts of the text, a text-subject appears which, with the help of ‘analogies’, ‘person as authenticity’ and ‘modal values’, constitutes itself as a competent discourse-subject of the respective scientific area. The narrative strategic or epistemic keywords in Kosmos are scientific knowledge, experiments, measurement and observation. Alongside them, analogy, authenticity, and modal values are important narrative episteme.

Résumé

Dans cette étude, j’ai essayé d’utiliser des méthodes narratives pour trouver des caractéristiques narratives spécifiques dans Kosmos et les mettre en évidence dans leur vision de la nature. Nous avons pu identifier un narrateur dans le Kosmos d’Alexander von Humboldt qui serait considéré comme « narrateur omniscient » dans les études littéraires. Au fil du temps, ce narrateur se transforme en d’autres personnages narratifs tels que « denkende Betrachtung », « ordnenden Geist », etc. La nature est décrite de son point de vue. Dans les parties concrètes du texte, un sujet apparaît dans le texte et, à l’aide d’« analogies », de « personne comme authenticité » et de « valeurs modales », se constitue lui-même comme un sujet de discours compétent dans le domaine scientifique concerné. Les mots-clés narratifs stratégiques ou épistémiques dans Kosmos sont les connaissances scientifiques, les expériences, la mesure et l’observation. L’analogie, l’authenticité et les valeurs modales y sont aussi des épisodes narratifs importants.

1 Einleitung

Alexander von Humboldt verfügte über ein enzyklopädisches Wissen, das in seinem transdisziplinären Spektrum für einen einzelnen Menschen schier unmöglich zu erlangen erschien. Er wollte „in der Mannigfaltigkeit der Natur die Einheit erkennen und den Geist der Natur ergreifen, der unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt“1. Neuere Studien wie z. B. über das Anthropozän sehen hier wichtige Anknüpfungspunkte.2 Humboldt wollte mit dem Wissen die Natur und die ganze Welt verstehen und den Leuten verstehen helfen. Er war Literat, Historiker, Anthropologe, Ethnologe, Astronom, Botaniker, Geologe, Geograph, Meereskundler, Meteorologe, Physiologe, Zoologe, Vulkanologe … Es stellt sich die Frage, was er denn nicht war. Nach ihm war es unmöglich, sich so ein universales Wissen anzueignen.

Aber was hat ein Literaturwissenschaftler im Kosmos zu suchen? Ich als Literaturwissenschaftler gehe davon aus, dass Literatur – als eine spezifische Weise betrachtet – Texte organisiert und dadurch einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, die Welt narrativ zu konstituieren und zu verstehen. Dabei kommt der narrativen Erzählweise eine besondere Bedeutung zu. Das Thema dieses Aufsatzes ist demnach die Analyse der Erzählstrategie oder -weise eines transdisziplinären Natur- und Kulturforschers,3 der sich in zweifacher Hinsicht in einer Zwischenstellung befand, nämlich zwischen Geistes- und Naturwissenschaft und zwischen klassischer und moderner Naturwissenschaft. Ich habe nicht im fernsten im Sinn, mich in das Terrain des Kosmos zu begeben und mich dort naturwissenschaftlich zu betätigen. Aber es interessiert mich sehr, wie ein transdisziplinärer Naturforscher schreibt, welche Erzählstrategie und -weise für ihn charakteristisch sind und welchen Beitrag er zur Konstituierung der physikalischen Welt leistet. Außerdem wäre es interessant zu sehen, ob die Erzählweise auf außertextuelle Haltung wie z. B. natur- oder weltanschauliche schlussfolgern lässt.

Für meine Fragestellung sind vor allem zwei wichtige Vorarbeiten4 zu erwähnen. Hey’l konstatiert, dass es sich im Kosmos verschiedene Aussagesubjekte (der Reisende, der Wanderer, der Forscher, der Gelehrte usw.) präsentieren, die im Zusammenhang von Leben und Werk als Humboldt bezeichnet werden können.5 „Alle diese Facetten amalgamieren sich zum Gesamtbild einer öffentlichen Person des erfahrenen und allwissenden Humboldt, in dem die Wissenschaft und die Welt mit der historischen, individuellen Gestalt verschmelzen.“6

Ette führt an, dass „die Humboldtian Sciense ohne das Humboldtian Writing nicht zu begreifen wäre“7. Ette erläutert Humboldtian Writing, also Humboldt’sches Schreiben, dass Humboldt mehrere literarische Figuren schafft, die sich in verschiedenen Ichs repräsentieren. Sie sind ein reisendes Ich, ein schreibendes Ich, ein wissenschaftliches Ich und schließlich ein philosophisches Ich.

Auf diese Weise stellen die Humboldtschen Texte dank dieser Ich-Konfigurationen des Humboldtian Writing jene übergreifende Kodes zur Verfügung, kraft deren verschiedensten Einzelerscheinungen durch die Leserschaft dekodiert und in ihrem Funktionszusammenhang innerhalb des literarischen Naturgemäldes eingeordnet und verarbeitet werden können.8

Die beiden Arbeiten haben charakteritische Erzähl- oder Schreibweise von Humboldt herausgegriffen und vermitteln weiterführende Einsicht für das Verständnis der Humboldt-Texte. Aber „alle diese Facetten“ (Hey’l 2007) werden vorschnell auf die Person Humboldt zurückgeführt, die außertextuelle Instanz ist. Der Text soll zunächst textintern analysiert werden. Humboldt’sches Schreiben oder die „Ich-Konfigurationen“ (Ette 2021) stellen auf der einen Seite sehr hilfreiches Instrumentarium zur Verfügung, Humboldts Texte multidimensional wahrzunehmen. Aber auf der anderen Seite ist die Unterscheidung der Ichs doch allgemein und hat mehr typisierenden Charakter der Aussagen. Sie erklärt nicht näher, wie die Ichs generativ zustande kommen, welche narratologischen Funktionen sie haben und wie sie voneinander zu unterscheiden sind. Was heißt z. B. ein schreibendes Ich, wenn Humboldt ohnehin immmer schreibt? Bei der Analyse kommt es ja gerade darauf an, wie Humboldt schreibt. Diese typisierende Unterscheidung von Ette sollte narratologisch präzisiert werden.

Ich werde in meinem Aufsatz versuchen zu erklären, was für ein Erzähler im Kosmos vorkommt, wie die verschiedenen Aussagensubjekte, also Diskurs-Subjekte zustande kommen, worauf sie begründen und wie das alles narratologisch zu verstehen ist.

Als Untersuchungsgegenstand nehme ich den Kosmos, und zwar den ersten Band, weil der Kosmos das Hauptwerk von Alexander von Humboldt ist. Wie ein Humboldt-Biograph, also Hanno Beck sagt, war der Kosmos als der erste wissenschaftliche Bestseller neben der Bibel das meist gelesene Werk des 19. Jahrhunderts.9 Kosmos war die „‚Bibel‘ eines Bildungsbürgertums“10 des 19. Jhs. Außerdem hatte der erste Band als „Einleitende Betrachtung über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und einer wissenschaftlichen Ergründung des Weltgesetzes“ einen allgemein einleitenden Charakter. Dieser „allgemein einführende“ Charakter bietet sich für meine Untersuchung als sehr geeignet an, weil gerade darin die repräsentative Erzählstrategie und -weise von Humboldt besonders deutlich zum Ausdruck kommen.

2 Erzähler-Frage

Bei der Analyse eines Textes ist es wichtig, den „point of view“, also den Erzähl-Standpunkt zu finden, von dem aus Texte erzählt und so die Welt narrativ konstituiert wird. Thomas Mann sagt zu diesem Problem: „Er (der Geist der Erzählung, J-O L) ist luftig, körperlos, allgegenwärtig, nicht unterworfen dem Unterschiede von Hier und Dort. Er ist es, der spricht: ‚Alle Glocken läuten‘, und folglich ist er’s, der sie läutet.“11 Wir benennen diese luftige, körperlose und allgegenwärtige Figur als den Erzähler, der eine Geschichte erzählt oder Texte schreibt. In der Literaturwissenschaft nennen wir einen solchen Erzähler auktorialen Erzähler, der von einer olympischen Höhe aus auf die Welt herabblickt und allwissend und allsehend erzählt. Die Frage, wie der Anfang eines Romans beginnen soll, ist deshalb wichtig und gleichzeitig schwierig, weil die Disposition zur Erzählung und somit zur erzählenden Welt mit der Positionierung des Erzählers zusammenhängt. Manchmal beschäftigt sich ein Erzähler gleich am Anfang eines Romans mit diesem Problem, z. B. die Erzähler des Demian oder des Romans Der Zauberberg. Nun betrachten wir den Erzähler im Kosmos:

Wenn der menschliche Geist (Hervorhebung, J-O L) sich erkühnt, die Materie, d. h. die Welt physischer Erscheinungen, zu beherrschen, wenn er bei denkender Betrachtung [Hervorhebung auch vom Verf.] des Seienden die reiche Fülle des Naturlebens, das Walten der freien und der gebundenen Kräfte zu durchdringen strebt, so fühlt er sich zu einer Höhe gehoben, von der herab, bei weit hinschwindendem Horizont, ihm das einzelne nur gruppenweise verteilt, wie umflossen von leichtem Duft erscheint. Dieser bildliche Ausdruck ist gewählt, um den Standpunkt zu bezeichnen, aus dem wir hier versuchen, das Universum zu betrachten und in seinen beiden Sphären, der himmlischen und der irdischen, anschaulich darzustellen.12

Humboldt will gerne das Universum betrachten und „die Welt physischer Erscheinungen“ einleitend und beschreibend erklären. Hier stellt sich eine Frage: Wie kann ein Mensch, für den es einfach unmöglich ist, das ganze Universum zu betrachten, doch in eine Höhe emporsteigen, wovon aus das Universum zu betrachten ist? Humboldt überlegt sich ganz bewusst, welchen Erzähl-Standpunkt er nehmen soll. In dem Text tritt Humboldt als „Wir-Erzähler“ auf. Aber der eigentliche Erzähler, von dem aus die Welt in den Blick genommen wird, ist nicht dieses „Wir“, sondern ein „menschlicher Geist“ oder eine „denkende Betrachtung“. Um die physische Welt anschaulich darzustellen, fühlt er sich veranlasst, in eine Höhe emporzusteigen, von der aus er das Universum betrachten kann. Das alles ist eine Überlegung und eine bildliche Beschreibung, wie er selbst sagt, aber auch fast genau das, was es in der Literaturwissenschaft als auktoriale Erzähl-Situation bezeichnet wird. Es ist ja gerade erstaunlich, dass Humboldt vor fast 200 Jahren ein erzählerisches Phänomen vorgreift und praktisch diskutiert, dass Literaturwissenschaftler erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begrifflich zu diskutieren suchten. Wir könnten den Text ohne weiteres als ein musterhaftes Beispiel für eine auktoriale Erzählsituation betrachten. Natürlich gab es in der Goethe-Zeit verschiedene Erzähler-Typen, wenn auch nicht so ausgefeilt wie heute, und es wurden auch unterschiedliche Erzählfiguren verwendet, aber nicht so begrifflich deren bewusst. Den Begriff auktorialen Erzähler verwendet Franz K. Stanzel erst in der 1970er Jahre in seinem Buch Theorie des Erzählens.13 Wenn wir so einem Erzähler in literarischen Werken begegnen würden, würde es kein Deutungsproblem bereiten, weil in der Literaturwissenschaft zwischen dem Erzähler und dem Autor unterschieden wird. Aber der Kosmos ist kein fiktionales literarisches Werk, sondern eher ein transdisziplinäres oder ein „naturwissenschaftliches“. Eine historische Person wie Humboldt kann sich nicht in die Höhe emporheben, von der aus er das Universum betrachten und herabblickend die himmlischen und irdischen Sphären beschreiben kann. Wie dies aber trotzdem erzählerisch ermöglicht wird, sehen wir im folgenden Text:

Die Natur ist für die denkende Betrachtung [Hervorhebung, J-O L] Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen: der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus; und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.14

In dem Text kommt der Kerngedanke des Naturbegriffes von Humboldt deutlich zum Ausdruck. Wer erzählt aber diesen Text? Es ist schwer, in dem Text einen Erzähler ausfindig zu machen. Im Text wird fast erzählerlos erklärt. Erst in der Mitte und zum Ende des Textes hin finden wir Indizien, die auf die Existenz des Erzählers hinweisen, nämlich in der personalen possessiven Form „uns“, also dem „Wir-Erzähler“. Aber dieses Wir ist nicht ein aktiver, wirklicher Erzähler, sondern eher ein passiver Empfänger, der die Eindrücke von der Natur empfängt. Der eigentliche Erzähler spricht in Form der „denkenden Betrachtung“, weil die im Text beschriebene Natur nun die Natur dieses Denkenden ist. Da sehen wir, dass der Erzähler „wir“ sich scheinbar überflüssig macht, und sich einschleicht in „denkende Betrachtung“, wovon aus er die Natur erlebend und erlebt beschreibt. Aus dessen Perspektiv ist die Natur „Einheit in der Vielheit“ und „ein lebendiges Ganzes“ und „unter der Decke der Erscheinungen“ Verhülltes. Der formale Wir-Erzähler löst sich de facto auf und schleicht sich sozusagen in eine „denkende Betrachtung“ ein und erklärt von ihr aus die Natur.

Diese Erzählstrategie kommt im Kosmos sehr oft vor, so dass sie als eine charakteristische Erzähl-Form des Kosmos bezeichnet werden kann. Variierende, in der Funktion vergleichbare Erzähl-Figuren sind außerdem „denkende Betrachtung“, ‚„ordnender Geist“, „denkende Behandlung“, „kombinierender Verstand“, „ordnender Denker“, „ordnendes Denkvermögen“, „denkender Beobachter“, „forschender Geist“, „neugierig regsamer Geist“ usw. All diese machen zusammen ein Raster der Erzähl-Figuren im Kosmos aus. Damit meine ich nicht, dass eine Figur von dem Raster, z. B. die denkende Betrachtung, Texte erzählen würde. Ich möchte aber doch betonen, dass die beschriebene Natur im Kosmos eine durch eine von diesen Figuren reflektierte, beobachtete und erlebte Natur ist. Wir können es einen Schritt vorantreiben, dass wir diese Figur nicht nur als einen erzählerischen Repräsentanten von Humboldt, sondern im Sinne von Michel Foucault als historisches Archiv des 19. Jahrhunderts verstehen. Wir könnten sie alle zusammen als „Humboldts Blick“ bezeichnen, mit dem er die Natur „konstituiert“ und versteht.

3 Konstitution des Aussagesubjektes als Diskurs-Subjekt

Wie wir wissen, ist Kosmos ein transdisziplinärer Text. Im Kosmos werden nicht nur naturphilosophisch einleitende Texte wie oben behandelt, sondern auch naturwissenschaftliche Inhalte sui generis diskutiert. Ein denkender Geist z. B. als Erzähler wäre in diesem Fall zu allgemein oder nicht geeignet für einen wissenschaftlicheren Diskurs. Es wäre umso interessanter zu sehen, wie sich ein naturwissenschaftliches Diskurs-Subjekt konstituiert. Wir wollen uns nun konkret ansehen, wie sich ein Aussagesubjekt aus dem „Humboldts Blick“ generiert und sich aus Humboldt’s naturwissenschaftlich kompetentes Diskurs-Subjekt konstituiert.

In den allgemeinen Betrachtungen (Hervorhebung, J-O L), mit denen ich die Prolegomenen zur Weltanschauung eröffnet habe, wurde entwickelt und durch Beispiele zu erläutern gesucht, wie der Naturgenuß, verschiedenartig in seinen inneren Quellen, durch klare Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen und in die Harmonie der belebenden Kräfte erhöht werden könne. Es wird jetzt mein Bestreben sein, den Geist und die leitende Idee der nachfolgenden wissensschaftlichen Untersuchungen spezieller zu eröffnen, das Fremdartige sorgfältig zu scheiden, den Begriff und den Inhalt der Lehre von Kosmos, wie ich dieselbe aufgefaßt und nach vieljährigen Studien unter mancherlei Zonen bearbeitet habe, in übersichtlicher Kürze anzugeben. (…) Die Prolegomenen umfassen in vier Abteilungen nach der einleitenden Betrachtung über die Ergründung der Weltgesetze: 1. den Begriff und die Begrenzung der physischen Weltbeschreibung als einer eigenen und abgesonderten Disziplin; 2. den objektiven Inhalt: die reale, empirische Ansicht des Naturganzen in der wissenschaftlichen Form eines Naturgemäldes; 3. den Reflex der Natur auf die Einbildungskraft und das Gefühl als Anregungsmittel zum Naturstudium durch begeisterte Schilderungen ferner Himmelsstriche und naturbeschreibende Poesie(einen Zweig der modernen Literatur), durch veredelte Landschaftsmalerei, durch Anbau und kontrastierende Gruppierung exotischer Pflanzenformen; 4. die Geschichte der Weltschauung, d. h. der allmählichen Entwicklung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos als einen Naturganzen.15

Wir können den obigen Text in drei Teile geteilt betrachten. Der erste Teil ist ein allgemein einleitender Teil, der zweite ein wissenschaftlicher und der letzte ein spezifizierender Teil des zweiten Teils. Es ist auffällig, dass hier expressis verbis ein „wissenschaftlicher“ Erzähler auftritt. Er will nun Untersuchungen „wissenschaftlich“, „spezieller“ und „übersichtlich“ vorgehen und schließlich die Weltgesetze ergründen. Dafür nimmt er eine Wissenschaftler-Position an. Dann folgen vier Diskurssubjekte nach: Wissenschaftsbegründer, Wissenschaftler, Erzieher und Begriffshistoriker. Sie unterscheiden sich von vorherigen Erzählerfiguren durch ihre „spezielle Naturwissenschaftlichkeit“. Als Diskurssubjekt konstituiert es gleichzeitig seinen Diskursbereich, also den jeweiligen Wissenschaftsbereich, wo es als Subjekt agiert. Nun wollen wir uns anschauen, wie das angekündigte Diskurs-Subjekt sich im Text konstituiert und worauf es sich gründet. Dieses wollen wir an drei Stichworten, nämlich Analogie, Person als Authentizität und modale Werte repräsentativ exemplifizieren. Diese drei Stichworte fungieren als eine Art Epi­steme im Sinne von Foucault, die in gegebenen historischen Zeiten Wissen überhaupt möglich machen und produzieren.16

3.1 Analogie

Einer der am häufigsten verwendeten epistemischen Begriffe im Kosmos ist Analogie, die neben den Erzählfiguren wie „denkender Betrachtung“, „ordnender Geist“ etc. im Kosmos vorkommen und textkonstitutiv wirken.

Das Eruptionsgestein, das wir diese durchbrechen und heben sehen, steigt aus uns unzugänglicher Tiefe empor; es existiert demnach schon unter den silurischen Schichten, aus derselben Assoziation von Mineralien zusammengesetzt, die wir als Gebirgsarten, da wo sie durch den Ausbruch uns sichtbar werden, Granit, Augitfels oder Quarzporphyr nennen. Auf Analogien gestützt (Hervorhebung, J-O L), dürfen wir annehmen, daß das, was weite Spalten gleichsam gangartig ausfüllt und die Sedimentschichten durchbricht, nur Zweige eines unteren Lagers sind. Aus den größten Tiefen wirken die noch tätigen Vulkane; und nach den seltenen Fragmenten zu urteilen, die ich in sehr verschiedenen Erdstrichen in den Lavaströmen habe eingeschlossen gefunden, halte auch ich es für mehr als wahrscheinlich, daß ein uranfängliches Granitgestein die Unterlage des großen, mit so vielen organischen Resten angefüllten Schichtenbaus sei.17

Der Wir-Erzähler dieses Textes unterscheidet sich von dem obigen durch eine „Naturwissenschaftlichkeit“ des Inhaltes und des Subjektes. Das Subjekt des Textes ist ein Geologe oder ein Vulkanologe. Es versucht, die Zusammensetzungen des Eruptionsgesteins herauszufinden. Es kann aber die Tiefe weder erreichen noch sehen. Wie kann er trotzdem die Tiefe erklären? Der Text gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil hat zum Inhalt, dass das Eruptionsgestein aus unzugänglicher Tiefe emporsteigt; der zweite Teil besagt, dass Gebirgsarten unter den silurischen Schichten existierten. Der dritte Teil beschreibt, dass das Aussage-Subjekt auf Analogien gestützt sagen kann, dass die Gesteine nur Zweige eines unteren Lagers seien, und im letzten Teil, gestützt auf Analogien und seiner Erfahrungen vor Ort, dass ein uranfängliches Granitgestein die Unterlage des großen, mit so vielen organischen Resten angefüllten Schichtenbaus sei. Das Subjekt, das anfangs vorsichtig mit unzulänglicher Tiefe begonnen hat, stellt fest, dass das Eruptionsgestein aus denselben Mineralien wie Granit, Augitfels oder Quarzporphyr zusammengesetzt ist. Aufgrund der Analogie nimmt das Subjekt an, das in der Tiefe der Vulkan noch tätig ist, und zuletzt zur Analyse des Gebirgsgesteins kommt. Die Aufbaulogik des Textes ist, dass durch Analogien des sichtbaren Gesteins, das aus der Untiefe heraufgekommen ist, auf die Zusammensetzungen der Mineralien in der Untiefe geschlossen werden kann. Durch die Analogie wird Unsichtbares sichtbar und so erklärbar gemacht. Nun schauen wir uns einen anderen Text an, der das Sonnensystem behandelt.

Die elf bisher entdeckten, um unsere Sonne kreisenden Hauptplaneten finden sich gewiß von 14, wahrscheinlich von 18 Nebenplaneten (Monden, Satelliten) umgeben. Die Hauptplaneten sind also widerum Zentralkörper für untergeordnete Systeme. Wir erkennen hier im Weltbau gleichsam denselben Gestaltungsprozeß (Hervorhebung, J-O L), den uns so oft die Entfaltung des organischen Lebens bei vielfach zusammengesetzten Tier- und Pflanzengruppen in der typischen Formwiederholung untergeordneter Sphären zeigt.18

Im obigen Text kommt das Wort Analogie nicht vor. Stattdessen gebraucht das Subjekt „denselben Gestaltungsprozeß“. Trotz des anderen Ausdruckes ist die Bedeutung der Analogie gleich. Das Charakteristikum des Textes ist, dass die Bereiche, die durch „denselben Gestaltungsprozeß“ miteinander verglichen werden, nicht dieselben, sondern heterogene sind. Was also besonders an diesem Text ist, ist die Textstruktur, die aus dem Sonnensystem gewonnen ist, auf die Texte für die Tier- und Pflanzengruppe erweiternd angewendet wird. Solches bereichsübergreifende Phänomen können wir im ganzen Kosmos feststellen.

Der Begriff Analogie kommt als Kernbegriff im Kosmos durchgängig vor. Im ersten Band kommt Analogie als textkonstituierender Begriff mindestens 25-Mal vor. Das bedeutet, dass das Subjekt mithilfe der Analogien unsichtbaren in sichtbaren und unerklärbaren in erklärbaren Bereich transformieren kann. Von sich aus heterogene Bereiche, z. B. astronomisches Wissen, wird in geologisches, und vulkanologisches Wissen wird in Pflanzenkunde umgewandelt durch Analogien. Die Analogien werden besonders dort eingesetzt, wo es nicht durch explizite naturwissenschaftliche Tätigkeiten z. B. durch Messen, Experimente und Beobachten nachzuweisen möglich war. Dieses Phänomen erklärt einer der Humboldt-Experten Eberhard Knobloch: „Mittels Analogien gewonnene Aussagen haben einen Wahrscheinlichkeitsstatus, der nur ein Durchgangsstudium auf dem Weg zu genauerem Wissen darstellt.“19 Es ist sehr treffend, aber gleichzeitig sehr nahe liegend, dass Analogie nicht nur „ein Durchgangsstudium auf dem Weg zu genauerem Wissen darstellt“, sondern ein wichtiger, epistemischer Begriff ist, der für das Wissenssystem und für das holistische und transdisziplinäre Naturverständnis von Humboldt eine zentrale Rolle spielt. Diese bereichsübergreifenden Analogien sind aber nicht etwa als ein Zeichen für seine methodische Schwäche zu deuten. Sie sind eher eine selbstverständliche und konsequente Anwendung seiner holistischen und transdisziplinären Naturanschauung. Für Humboldt ist alles in der Natur miteinander verwoben. Daher ist es die Aufgabe des Wissenschaftlers, „den Geist der Natur, der unter der Decke der Erscheinung verhüllt liegt“20, zu ergreifen. Die Analogien sind ein Weg dazu.

3.2 Person als Authentizität

Die Forschungsreise von Humboldt in Süd-Amerika (1799–1804) zählt zu den größten der Weltgeschichte. Er war als freier Natur- und Kulturforscher fünf Jahre lang dort unterwegs. Er durchforschte den Orinoco, drang durch bis in die letzten Winkel des Dschungels und bestieg den Chimborazo ohne irgendwelche Sauerstoff-Geräte bis auf 6 000 Meter, also gerade keine 300 Meter unter dem ewig schneebedeckten Gipfel. Er sammelte und zeichnete Pflanzene, maß die Berghöhe, eilte in ein Erdbebengebiet, um selbst ein Erdbeben zu erleben. Er ging in den Fluss hinein, wo Zitteraale noch Elektrizität ausstrahlten. Er kroch in die Tiefen der Anden, um die Flammen im Innern eines aktiven Vulkans zu betrachten. Er riskierte sein Leben mehrmals. Als er von Süd-Amerika nach Europa zurückkam, brachte er 60 000 Pflanzenproben mit.21 Diese in der Welthistorie einmalige Forschungsreise brachte ihm Anerkennung und Ruhm als Wissenschaftler und aufgeklärter Humanist. Als er nach Europa zurückkam, war er so bekannt wie Napoleon. Er als Person selbst war sozusagen eine Zeit-Ikone oder fast ein Epistem geworden, das von sich aus Wissen produziert oder einfach das Wissen verkörpert.22 Nun wollen wir uns anschauen, wie diese authentische Erfahrung als Erzählmittel eingesetzt wird.

Um den Kausalzusammenhang der geognostischen Erscheinungen übersichtlich zu schildern, beginnen wir (Hervorhebung, J-O L) mit denen, deren Hauptcharakter dynamisch ist, in Bewegung und räumlicher Veränderung besteht. Erdbeben, Erdschütterungen zeichnen sich aus durch schnell aufeinanderfolgende senkrechte oder horizontale oder rotatorische Schwingungen. Bei der nicht unbeträchtlichen Zahl derselben, die ich in beiden Weltteilen, auf dem festem Land und zur See erlebte, haben die zwei ersten Arten der Bewegung mir sehr oft gleichzeitig geschienen. Die minenartige Explosion, senkrechte Wirkung von unten nach oben, hat sich am auffallendsten beim Umsturz der Stadt Riobamba (1797) gezeigt, wo viele Leichname der Einwohner auf den mehrere hundert Fuß hohen Hügel la Cullaca, jenseits des Flüßchens von Lican, geschleudert wurden.23

Subjekte, die im obigen Text vorkommen, sind „wir“ und „ich“. Das Wir, das die Leser und Hörer implizit mitausdrückt, verwandelt sich in das Ich. Dieses Ich konstituiert sich als Vulkanologe, der die Erscheinungen des Erdbebens beschriebt. Wenn wir diese Beschreibung genauer betrachten, kommt es fast vor, dass da „ein menschlicher Seismometer“ das Bewegen des Erdbebens ganz akkurat registrieren würde. Dieser Vulkanologe legitimiert sich aufgrund dessen, dass er auch vor Ort als Augenzeuge anwesend war und das Erdbeben an eigener Haut erlebte, also nach dem Motto: „Ich war dabei“. Und dieses verleiht ihm Authentizität und Autorität als Wissenschaftler. Er war das Subjekt, das die Natur, hier das Erdbeben beschreibt und war gleichzeitig selbst ein Objekt, das erlebend analysiert wird.

Im Kosmos kommt dieses authentische Ich sehr oft vor. Aber dieses Ich ist nicht nur ein linguistisches Subjekt des jeweiligen Textes und bezieht sich nicht einfach auf die Person Humboldt, sondern ein Diskurs-Subjekt, das am Ende des 18. Jahrhunderts als ein europäischer Wissenschaftler fünf Jahre lang Süd-Amerika vor Ort erforscht hat. Diese einmalige authentische Erfahrung spielte als ein Epistem eine wichtige Rolle. Er also selbst verkörpert die Wissenschaft.24

3.3 Modale Werte

Nun schauen wir uns einen Text an, den wir mit dem Begriff epistemische Modalität oder modale Werte im Sinne von Algirdas J. Greimas25 näher betrachten wollen.

Das Sonnensystem, d. h. die um die Sonne kreisend, sehr verschiedenartig geformte Materie, besteht nach unserer jetzigen Kenntnis (Hervorhebung, J-O L), aus elf Hauptplaneten, achtzehn Monden oder Nebenplaneten und Myriaden von Kometen, deren drei (planetarische) das enge Gebiet der Hauptplaneten nicht verlassen. Mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit dürfen wir auch dem Gebiet unserer Sonne, der unmittelbaren Sphäre ihrer Zentralkraft, zuzählen: erstens einen rotierenden Ring dunstartiger Materie, vielleicht zwischen der Venus- und Marsbahn gelegen, gewiß die Erdbahn überschreitend und uns in Pyramidalform als Zodiakallicht sichtbar; zweitens eine Schar von sehr kleinen Asteroiden, deren Bahnen unsre Erdbahn schneiden oder ihr sehr nahe kommen und die Erscheinungen von Aërolithen und fallenden Sternschnuppen darbieten. Umfaßt man die Komplikation von Gestaltungen, die in so verschieden, mehr oder weniger exzentrischen Bahnen um die Sonne kreisen, ist man nicht geneigt, mit dem unsterblichen Verfasser der Mécanique céleste die größere Zahl der Kometen für Nebelsterne zu halten, die von einem Zentralsystem zum anderen schweifen, so muß man bekennen, daß das vorzugsweise so genannte Planetensystem, d. h. die Gruppe der Weltkörper, welche in wenig exzentrischen Bahnen samt ihrem Mondgefolge um die Sonne kreisen, nicht der Masse, aber der Zahl der Individuen nach einen kleinen Teil des ganzen Systems ausmacht.26

Der Text behandelt siderische Erscheinungen und ist in vier Teile getrennt zu betrachten. Die Kriterien für die Unterscheidungen sind die Unterschiede der modalen Werte oder graduelle Verstärkung der wissenschaftlichen Aussagenkraft. Es sind Aussagen wie „nach unserer jetzigen Kenntnis“, „Mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit“, „dürfen“, „vielleicht“, „gewiß“ „ist man nicht geneigt“ und „so muß man bekennen“.

Das Subjekt, das „nach unserer jetzigen Kenntnis“ über das Sonnensystem ausgegangen ist, erwähnt Planeten, die das Sonnensystem bilden. Im zweiten Teil geht es „Mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit“ zu Planeten über, die zu der unmittelbaren Sphäre ihrer Zentralkraft der Sonne zu zählen sind. Dabei helfen die modalen Werte wie „dürfen“, „vielleicht“ und „gewiß“, diesen Übergang erzählerisch möglich zu machen. Der dritte Teil ist eingeleitet mit „ist man nicht geneigt“ und stellt fest, dass die größere Zahl der Kometen für Nebelsterne zu halten ist, die von einem Zentralsystem zum anderen schweifen. Diese Aussage wird zusätzlich durch den „unsterblichen Verfasser“, also Laplace unterstützt, der Mécanique céleste geschrieben hat. Dann sagt der Erzähler in dem letzten Teil mit sehr fester Sicherheit „so muß man bekennen“, dass die Gruppe der um die Sonne kreisenden Weltkörper nicht der Masse, aber der Zahl der Individuen nach einen kleinen Teil des ganzen Systems ausmacht.

Der Text fängt mit Vorsichtigkeit an, gewinnt aber im Laufe der Erzählung immer mehr an Deutlichkeit der Aussagen. Das, was die Fortsetzung der Erzählung ermöglicht und den Aussagen immer mehr Wahrscheinlichkeit verleiht, sind modale Werte mit astronomischem Wissen, also Mécanique céleste. Das, was den Text vorantreibt, sind weder die Analogien noch persönliche Authentizität, die wir oben analysiert haben, sondern textuelle modale Werte oder Sätze, die nachfolgende Sätze ermöglichen. Die Werte oder Sätze beziehen sich gegenseitig aufeinander und wirken so textkonstitutiv. Diese modalen Werte sind einerseits Werte, die folgende, naturwissenschaftlich-erklärende Sätze ermöglichen und andererseits linguistische Steigerungs- und gleichzeitig Übergangsform zu mehr sicherer Naturwissenschaftlichkeit.

4 Zusammenfassung

Ausgangsfragen dieser Untersuchung waren, ob wir erstens mit den narratologischen Metho­den, mit denen Literaturwissenschaftler normalerweise literarische Texte analysieren, die Erzählweise und -strategien eines Werkes wie Kosmos analysieren können; zweitens wie die Erzählweise und -strategien eines transdisziplinären Naturforschers sind oder was charakteristisch bei dieser Erzählweise ist und drittens, ob die festzustellenden Charakteristika der Erzählweise auf außertextuelle Haltung wie z. B. seine Welt- und Naturanschauung schließen lassen. Zu Beginn der Untersuchung konnten wir feststellen, dass im Kosmos ein Erzähler auftritt, den wir in der Literaturwissenschaft als einen auktorialen Erzähler bezeichnen würden. Da aber Kosmos ein transdisziplinäres Werk ist, kann ein eben festgestellter auktorialer Erzähler nicht durchgängig aufrechterhalten werden. Im Laufe des Textes löst er sich de facto auf, und es übernehmen andere Erzählfiguren wie „denkende Betrachtung“, „ordnender Geist“, „kombinierender Verstand“, „denkender Beobachter“ usw. eine Erzählerfunktion. Das Universum und die Natur werden von diesen Erzählfiguren aus erlebend wahrgenommen und beschrieben. Die verschiedenen Erzählfiguren werden wiederum in konkreten, naturwissenschaftlichen Texten mithilfe der Analogien, Person als Authentizität und modaler Werte als Diskurs-Subjekt konstituiert. Analogien, Person als Authentizität und modale Werte sind Voraussetzungen für die Konstitution eines Diskurs-Subjekts. Die strategischen oder epistemischen Stichworte, die im Kosmos vorkommen und mit deren Hilfe die Erzählung fortgeführt werden können, sind naturwissenschaftliches Wissen, Experimente, Messen, Beobachten usw. Bevor Humboldt nach Süd-Amerika reiste, beschaffte er sich die neuesten Messinstrumente, die gerade in Europa erfunden worden waren und die Humboldt „Organe“ nannte.27 Neben diesen sachlichen Instrumenten und naturwissenschaftlichem Wissen sind Analogien, Person als Authentizität und modale Werte wichtige Episteme, die Kosmos erzählerisch möglich machen und epistemologisch wichtig sind.

Humboldt war ein Natur- und Kulturforscher; er verstand die Natur mit denkender Betrachtung. So beobachtete er die Natur als erlebte Natur. Sein Bestreben, die holistische Natur- und Weltanschauung zu entfalten und Einheit in der Vielheit der Natur zu suchen, wird ermöglicht unter anderem durch die Episteme, die wir in dieser Abhandlung herausgefunden haben. Unter dem Aspekt wäre die Analogie z. B. nicht eine synthetisierende Methode, sondern sein Denken und seine zentrale Philosophie, in der „Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, die unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt“28. Die persönliche Authentizität ist praktisch-experimentelle Tätigkeit, die im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert naturwissenschaftlich erforderlich war und welche Humboldt als Person repräsentierte. Graduell steigende modale Werte sind Mittel, die bis dahin naturwissenschaftlich nicht geprüfte Aussagen erzählerisch möglich machen und auf dem Weg zu genauerem Wissen verhelfen.

Humboldt stand in zweifacher Hinsicht zwischen Schwellen. Einerseits stand er zwischen Geistes- und Naturwissenschaft und andererseits befand er sich zwischen den sich in Verzweigung begriffenen Naturwissenschaften. Humboldt, der sich zwischen der klassischen und modernen Zeit befand, lehnte die klassischen Episteme ab und versuchte, die sich in Zersplitterung begriffenen Naturwissenschaften mit den Humanwissenschaften zu vereinen und so seine holistische Weltanschauung mit seinem transdisziplinären Wissen zu entfalten. In diesem Sinne war er einer der ersten transdisziplinären Natur- und Kulturforscher. Die Vielfältigkeit der Erzählerfiguren und die drei diskursiven Begriffe wie Analogie, Person als Authentizität und modale Werte sind neben den „Organen“ sowohl erzählerische Strategien als auch (natur-)wissenschaftliche Episteme, die für Humboldts transdisziplinäres Wissen im 19. Jahrhunderts charakteristisch waren.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart und Augsburg 1845.

Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Hrsg. von Ette, Ottmar/Lubrich, Oliver. Berlin 2014.

Humboldt, Alexander von: Das graphische Gesamtwerk. Hrsg. von Ette, Ottmar/Lubrich, Oliver. Darmstadt 2014.

Sekundärliteratur

Erle C. Ellis: Anthropocene, A very short Introduction. Oxford University Press 2018.

Ette, Ottmar: Die Listen von Alexander von Humboldts. Zur Epistemologie einer Wissenschaftspraxis. In: HiN XXI – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 41(2020), S. 47.

Ette, Ottmar (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2021.

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981.

Greimas, Algirdas J./Courtes, J.: Semiotics and Language. An analytical Dictionary. Bloomington 1982.

Hey’l, Bettina: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller. De Gruyter, Berlin/New York 2007.

Knobloch, Eberhard: Alexander von Humboldts Weltbild. In: HiN – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 10(19), https://doi.org/10.18443/126, S. 34–46, hier S. 39, [letzter Zugriff am 10. Dezember 2021].

Mann, Thomas: Der Erwählte. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 7. Oldenburg 1960.

Müller, Michael: Das Anthropozän. Schlüsseltext des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. München 2019.

Päch, Susanne: Alexander von Humboldt als Wegbereiter naturwissenschaftlicher Volksbildung. In: Philosophia Naturalis. Bd. 17, H. 4, 1979.

Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979.

Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München 2015.

1 Vgl. Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1, Stuttgart und Augsburg 1845, S. 6.

2 Vgl. Müller, Michael: Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. München 2019, S. 11; Ellis, Erle C.: Anthropocene, A very short Introduction. Oxford University Press 2018, p. 120.

3 Vgl. Ette, Ottmar: Die Humboldtsche Wissenschaft. In: Ette, Ottmar (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2021, S. 107 f.

4 Hey’l, Bettina: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller. De Gruyter, Berlin/New York 2007; Ette, Ottmar: Das Humboldtsche Schreiben. In: Ette, Ottmar (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Handbuch, Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2021, S. 169–175.

5 Vgl. Hey’l 2007, S. 466.

6 Vgl. ebd.

7 Vgl. Ette 2021, S. 171.

8 Vgl. ebd., S. 174.

9 Der erste Band des Kosmos wurde zunächst in 3 000 Exemplaren gedruckt. Im gleichen Jahr gab es zwei weitere Nachdrucke mit insgesamt 7 000 Exemplaren. Es folgten 1846 und 1847 Nachdrucke mit je 1 000, 1848 mit 2 000 Exemplaren. Der dritte und vierte Band wurden gleich mit einer Auflage von je 15 000 gedruckt. Das Honorar war das höchste, das vom Cotta-Verlag im 19. Jahrhundert gezahlt worden ist. Vgl. Päch, Susanne: Alexander von Humboldt als Wegbereiter naturwissenschaftlicher Volksbildung. In: Philosophia Naturalis. Bd. 17, H. 4, 1979, S. 494 f.

10 Vgl. Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Hrsg. von Ette, Ottmar/Lubrich, Oliver. Berlin 2014, S. 919.

11 Mann, Thomas: Der Erwählte. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 7. Oldenburg 1960, S. 10.

12 Humboldt 1845, S. 79.

13 Vgl. Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979.

14 Humboldt 1845, S. 5–6.

15 Humboldt 1845, S. 49–50.

16 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 253 ff.

17 Humboldt 1845, S. 300.

18 Ebd., S. 99.

19 Knobloch, Eberhard: Alexander von Humboldts Weltbild. In: HiN – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 10(19), https://doi.org/10.18443/126, S. 34–46, hier S. 39, [letzter Zugriff am 10. Dezember 2021].

20 Humboldt 1845, S. 6.

21 Vgl. Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München 2015, S. 149.

22 Ette bezeichnet Humboldt als „Diskursbegründer“ im Sinne von Foucault. Vgl. Ette, Ottmar: Die Listen von Alexander von Humboldts. Zur Epistemologie einer Wissenschaftspraxis. In: HiN – Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 21(41), https://doi.org/10.18443/303, S. 43–61, hier S. 47, [letzter Zugriff am 10. Januar 2022].

23 Humboldt 1845, S. 210.

24 Ein Humboldt-Biograph wie A. Wulf sagt: Humboldt ‘had become the authority on the subject (of South America)’. (Anmerkung, J-O L). Vgl. Wulf 2015, S. 152.

25 Modalitäten oder modale Werte drücken ganz grob erklärt aus, wie sich ein Subjekt zu seinem linguistischen Tun verhält. In einem Satz „Ich will gut sein“ sind zwei Subjekte. Das erste Subjekt hat den Willen, und das zweite Subjekt ist in einem bestimmten Zustand, also „gut sein“. Das erste Subjekt, das dem zweiten übergeordnet ist, definiert oder dominiert das zweite. Modale Werte sind Werte, die solche Transformation ermöglichen. Typische Modalitäten sind Modalverben. Vgl. Greimas, Algirdas J./Courtes, J.: Semiotics and Language. An analytical Dictionary. Bloomington 1982, S. 106 ff. und S. 193 ff.

26 Humboldt 1845, S. 94–95.

27 Er hatte insgesamt 42 Instrumente nach Süd-Amerika mitgenommen. Unter anderem: Hygrome­ter, Hypsometer, Hyetometer, Elektrometer, Eudiometer, Aräometer, Graphometer, Chronometer, Quadrant, Cyanometer, Sextant, Theodolit, Magnetometer, Deklinatorium, Inkliometer, einen künstlichen Horizont, galvanische Apparate usw. Vgl. Wulf 2015, S. 71; Humboldt, Alexander von: Das graphische Gesamtwerk. Hrsg. von Ette, Ottmar/Lubrich, Oliver. Darmstadt 2014, S. 19.

28 Ebd., S. 10.

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