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Sebastian Krumpel

Zur quantitativen Auswertung der intertextuellen Bezüge Humboldts in seinem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne

Zusammenfassung

Losgelöst vom eurozentrischen Systemdenken sowie den Vorurteilen der Philosophie und Wissenschaften bediente sich Alexander von Humboldt eines transnationalen Wissensreservoirs, das er in seinen Werken zu einem länder- und sprachübergreifenden Wissensnetzwerk verband. Die vorliegende quantitative Auswertung der intertextuellen Bezüge des Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne zeigt zum einen deren Vielzahl und Komplexität auf, zum anderen, inwieweit Humboldt sich zwischen zwei sich diskursiv abgrenzenden Welten bewegt und sich unabhängig von der Abstammung oder Herkunft der Autoren mit deren Forschungsergebnissen auseinandersetzt. Der relativ große Anteil an amerikanischen Werken, auf die Humboldt in seinem Essai Bezug nimmt, verdeutlicht im Besonderen den hohen Stellenwert, den sie für seine eigenen Forschungen einnahmen und im Allgemeinen den Beginn der wachsenden Bedeutung der Wissenschaft in Amerika.

Abstract

Detached from Eurocentric systems thinking and the prejudices of philosophy and science, Alexander von Humboldt used a transnational knowledge reservoir, which he summarized in his work to form a cross-country and cross-language knowledge network. This quantitative evaluation of the intertextual references of the Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne shows on the one hand their variety and complexity, on the other hand to what extent Humboldt moves between two discursively different worlds and deals with the research results of authors, regardless of their origin or lineage. The relatively high percentage of American works to which Humboldt refers in his essay reflects in particular their great importance for his own research work and, in general, the beginning of the increasing significance of science in America.

Resumen

Independientemente del pensamiento sistémico eurocéntrico y los prejuicios de la filosofía y las ciencias, Alexander von Humboldt hizo uso de una reserva de conocimiento transnacional, que combinó en sus trabajos para formar una red de ciencia que abarcó países e idiomas. La presente evaluación cuantitativa de las referencias intertextuales del Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne muestra, por un lado, su variedad y complejidad, por otro, hasta qué punto Humboldt se mueve entre dos mundos discursivamente diferentes y cómo trata los resultados de investigación, independientemente del origen o perfil de los autores. La proporción relativamente grande de obras americanas a las que Humboldt se refiere en su Ensayo ilustra, en particular, la gran importancia que le dieron a su propia investigación y, en general, el comienzo del creciente valor de la ciencia en América.

Im Anschluss an seine fünfjährige amerikanische Forschungsreise (1799–1804) durch die heutigen Staaten Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru und Mexiko erschuf Alexander von Humboldt mit der Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent ein gewaltiges Reisewerk, das in 29 Bänden zwischen 1807 und 1839 in sechs Partien erschien.1 Zweifellos spielt der Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne in diesem amerikanischen Reisewerk eine herausragende Rolle. Der Essai politique wurde erstmals zwischen 1808 und 1811 in 2 Quartbänden veröffentlicht; 1811 erschien er mit identischem Inhalt, aber einer unterschiedlichen Paginierung in fünf Oktavbänden. In dieser insgesamt (inklusive der Analyse raisonnée) 2 133 Seiten umfassenden Oktavausgabe behandelt Humboldt explizit Themen der Geographie, Demographie, Altamerikanistik, Agrarwirtschaft, Industrie, Verwaltungsgliederung sowie des Bergbaus, Handels und Staatshaushaltes. Seine Beschreibungen von Phänomen erschöpfen sich allerdings nicht in einem aus rein empirischen Daten geformten Wissen; vielmehr setzt er dieses Wissen in Relation zu ethischen und ästhetischen Aspekten, um ein umfassendes und lebendiges Bild Neu-Spaniens zu vermitteln. Mit seinen Ausführungen gelingt es ihm, die Darlegungen seiner Forschungsarbeiten an allgemeinen Verständigungshorizonten auszurichten und die wechselseitigen Zusammenhänge von kulturellen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und politischen Themen zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck bediente sich Humboldt eines transnationalen Wissensreservoirs, das er zu einem länder- und sprachübergreifenden Wissensnetzwerk verband und bewegte sich in einem literarischen Raum, dem einseitige Beschränkungen auf europäische oder amerikanische Autoren fremd waren. Dabei löste er sich von dem eurozentrischen Systemdenken sowie den Vorurteilen der Philosophie und Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, die alles, was in Abgrenzung zu der eigenen Sichtweise stand, als inferior ansahen. Er vertrat die Überzeugung, dass ein grundlegendes Verständnis anderer Kulturen die Einsicht in das Vorhandensein einer Pluralität kulturell bedingter Perspektiven voraussetzt. Fremderkenntnis konnte für ihn nicht aus einem rein europäischen Denken und einer einzigen Sprache entstehen; nur durch das Bestreben und die Fähigkeit zur Relativierung der eigenen, bei gleichzeitiger Annahme der fremden Anschauung, war für Humboldt die Wahrnehmung des Anderen und letztlich das bessere Verstehen des Eigenen möglich.

Vielzahl und Komplexität der intertextuellen Relationen

Im Rahmen der folgenden quantitativen Auswertung der intertextuellen Bezüge der von Humboldt herangezogenen europäischen bzw. amerikanischen Literatur geht es nicht darum, „Humboldt in Zahlen“ zu erfassen, vielmehr wird ein Einblick in die Vielzahl und Komplexität der intertextuellen Relationen im Essai politique gegeben. Dabei werden 1. die Art des Werkes, 2. das Herkunftsland des jeweiligen Autors und 3. die Themen, zu denen Humboldt auf andere Werke verweist, differenziert erfasst.

In seinem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne hat Alexander von Humboldt auf insgesamt 409 Werke von 372 Autoren aus 21 verschiedenen Ländern2, davon sieben amerikanische Länder, verwiesen und dabei eine Vielzahl verschiedener Arten von Werken angeführt (Bücher, Handschriften, Artikel aus Fachzeitschriften sowie geographische Karten).3 75,1 % (307) der Werke stammen dabei von europäischen Autoren, 17,8 % (73) von amerikanischen sowie 7,1 % (29) von Autoren unbekannter Herkunft. Besonders herauszustellen ist, dass Humboldt von 26 mexikanischen Autoren insgesamt 46 verschiedene Werke aufführt, auf die er sich 96 Mal bezieht, was jeweils etwas über 11 % der Werke und Erwähnungen4 insgesamt darstellt (Abb. 1 und Tab. 1). Im Vergleich zur Anzahl der Werke amerikanischer Autoren und ihrer Erwähnungen machen mexikanische Werke jeweils mehr als 63 bzw. 64 % aus. An dieser Stelle sind dabei vor allem zum einen zwölf Werke von José Antonio Alzate y Ramírez zu nennen, auf die Humboldt insgesamt 18 Mal verweist, zum anderen wird die Bedeutung von Francisco Javier Clavijero deutlich, auf dessen Werk Storia antica del Messico: cavata da’ migliori storici spagnuoli, e da’ manoscritti, e dalle pitture antiche degl’ indiani er 22 Mal Bezug nimmt.

Neben Büchern hat Humboldt insgesamt 54 geographische Karten verwendet, um einen geographischen Gesamtüberblick Neuspaniens zu schaffen. 50 % dieser Karten hatten einen europäischen und 20,4 % einen amerikanischen Verfasser (der restliche Anteil fällt größtenteils auf Karten ohne angegebenen Verfasser). Neben mindestens 41 unterschiedlichen Handschriften führt Humboldt zudem 22 verschiedene Fachzeitschriften an, auf die er insgesamt 46 Mal verweist. Gemessen an der Gesamtanzahl der Verweise auf Fachzeitschriften wurden zu 54,3 % europäische und zu 45,7 % amerikanische Journale herangezogen. Bei den amerikanischen Fachzeitschriften nahm die Gazeta de Literatura (1788–1795) für Humboldts eigene Forschung eine wesentliche Rolle ein. Mit fünf Erwähnungen sowie vier verschiedenen Themenbereichen (Geographie, Landwirtschaft, Altamerikanische Kulturen, Kolonialgeschichte), auf die er Bezug nimmt, ist sie die Zeitschrift, die Humboldt in seinem politischen Essai am häufigsten heranzieht. Mit der Gazeta de México – Compendio de Noticias de Nueva España (1784–1809) beruft er sich am zweithäufigsten (vier Mal) auf eine weitere sehr verbreitete Zeitschrift Mexikos.5

Insgesamt können die meisten Bezüge den Themengebieten Geographie (22 %), Kultur und Geschichte (15 %), Bergbau (10 %) und Landwirtschaft (10 %) zugeordnet werden. Weitere Themenschwerpunkte sind Medizin (7,0 %), Handel (6,7 %) und Finanzen (5,3 %); die übrigen Oberbegriffsthemen (Geologie, Botanik, Demographie, Bauwesen, Sprache, Zoologie, Expeditionen und Sonstiges) belaufen sich insgesamt jeweils auf weniger als 5 % relativ zur Gesamtanzahl der den Erwähnungen zugeordneten Oberbegriffe (Abb. 2 und Tab. 2).6 Zu beachten ist, dass die hier dargestellten Themenbereiche nicht die Verteilung der Themen, welche Humboldt in seinem Essai beschreibt, repräsentieren, sondern die Häufigkeit und den Anteil an Themen, zu denen Humboldt Informationen aus Werken anderer Autoren verwendet hat. Für die Bestimmung des Themenbereiches wurde sich ganz konkret nur auf jene Informationen beschränkt, die Humboldt explizit aus anderen Werken angeführt hat, nicht auf den thematischen Kontext, in den diese Informationen im Essai integriert wurden (wobei diese meist dieselben waren). Insgesamt wurde bei der Auswertung zwischen 15 thematischen Oberbegriffen und 64 einzelnen Themenbereichen unterschieden (Tab. 2), die diesen Oberbegriffen zugeordnet wurden.7

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Abb. 1: Herkunft der Autoren, deren Werke Alexander von Humboldt in seinem Werk Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne verwendet hat. Hier dargestellt ist: Oben: Der Anteil der Herkunft der Autoren pro Land relativ zur Gesamtanzahl der Autoren insgesamt, wobei für Autoren europäischer Herkunft eine dunkelgraue, für amerikanische eine hellgraue und für Autoren unbekannter Herkunft eine weiße Hintergrundfärbung gewählt wurde. Unten links: Der Anteil der Herkunft europäischer Autoren pro Land relativ zur Gesamtanzahl europäischer Autoren. Unten rechts: Der Anteil der Herkunft amerikanischer Autoren pro Land relativ zur Gesamtanzahl amerikanischer Autoren. Bemerkung: Zur besseren Übersichtlichkeit wurden jene Länder, die weniger als fünf Autoren ausmachten, innerhalb der graphischen Darstellung unter ‚Sonstige‘ zusammengefasst; für eine detaillierte Auflistung siehe Tab. 1.

 

Kontinent

Herkunftsland

des Autors

Autoren:

Anzahl und (%)

Werke:

Anzahl und (%)

Erwähnungen:

Anzahl und (%)

Europa

Spanien

92 (24,7)

94 (23,0)

244 (29,0)

Frankreich

82 (22,0)

83 (20,3)

177 (21,1)

Deutschland

42 (11,3)

50 (12,2)

77 (9,2)

Großbritannien

39 (10,5)

41 (10,0)

91 (10,8)

Italien

10 (2,7)

10 (2,4)

12 (1,4)

Griechenland

5 (1,3)

5 (1,2)

11 (1,3)

Schweden

4 (1,1)

6 (1,5)

12 (1,4)

Dänemark

3 (0,8)

3 (0,7)

5 (0,6)

Österreich

3 (0,8)

3 (0,7)

3 (0,4)

Schweiz

3 (0,8)

3 (0,7)

8 (1,0)

Irland

2 (0,5)

3 (0,7)

5 (0,6)

Niederlande

2 (0,5)

2 (0,5)

5 (0,6)

Portugal

2 (0,5)

2 (0,5)

2 (0,2)

Russland

2 (0,5)

2 (0,5)

3 (0,4)

Summe europäischer Autoren

291 (78,2)

307 (75,1)

655 (78,0)

Amerika

Mexiko

26 (7,0)

46 (11,3)

96 (11,4)

USA

9 (2,4)

10 (2,4)

17 (2,0)

Peru

7 (1,9)

10 (2,4)

28 (3,3)

Kuba

3 (0,8)

3 (0,7)

3 (0,4)

Guatemala

2 (0,5)

2 (0,5)

2 (0,2)

Chile

1 (0,3)

1 (0,2)

2 (0,2)

Ecuador

1 (0,3)

1 (0,2)

1 (0,1)

Summe amerikanischer Autoren

49 (13,2)

73 (17,8)

149 (17,7)

Unbekannt

Unbekannte Herkunft

16 (4,3)

13 (3,2)

19 (2,3)

Unbekannte Autoren

16 (4,3)

16 (3,9)

17 (2,0)

Summe Autoren unbekannter Herkunft

32 (8,6)

29 (7,1)

36 (4,3)

Summe insgesamt

372 (100)

409 (100)

840 (100)

Tab. 1: Anzahl und prozentualer Anteil relativ zur jeweiligen Gesamtanzahl (in %) 1. der Autoren, 2. der Werke und 3. der Erwähnungen dieser, sortiert nach der Herkunft (Kontinent und Land) der Autoren, deren Werke Alexander von Humboldt in seinem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne herangezogen hat.

Besonders bemerkenswert ist, dass innerhalb des Themenbereichs Kultur und Geschichte mehr als 27 % der Erwähnungen von Werken auf amerikanische Autoren zurückzuführen sind. Mit alleinigem Blick auf die Werke amerikanischer Autoren machen Erwähnungen zu Kultur und Geschichte mehr als 21 % dieser aus. 26 Erwähnungen nehmen dabei auf altamerikanische Kulturen Bezug, 13 auf kolonialgeschichtliche Zusammenhänge; andere geschichtliche Themenzweige werden nicht oder kaum durch Werke amerikanischer Autoren belegt (Tab. 2). Hervorzuheben ist hier der relativ hohe Anteil an Verweisen auf amerikanische Autoren zum Thema der altamerikanischen Kulturen (41,3 %). Einen erheblichen Anteil in Bezug auf die Kultur altamerikanischer Völker, aber auch zur Kolonialgeschichte Amerikas, macht das Werk Storia antica del Messico: cavata da’ migliori storici spagnuoli, e da’ manoscritti, e dalle pitture antiche degl’ indiani von Francisco Javier Clavijero aus. Zudem sei in diesem Zusammenhang auch der peruanische Autor Garcilaso de la Vega zu nennen. Dass Humboldt in seinem Essai in altamerikanischen, kulturhistorischen Zusammenhängen derart verstärkt auf amerikanische Autoren und ihre Werke verweist, ist besonders bemerkenswert und verdeutlicht zum einen seine Funktion als Mittler zwischen Europa und Amerika, als auch zum anderen seine Würdigung amerikanischer Autoren bezüglich der Aufarbeitung der eigenen geschichtlichen Identität.8

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Abb. 2: Verteilung der Themen, zu denen Alexander von Humboldt in seinem Werk Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne konkret Werke anderer Autoren herangezogen hat. Hier dargestellt ist der Anteil des jeweiligen thematischen Oberbegriffs relativ zur Gesamtanzahl der den Erwähnungen zugeordneten Oberbegriffe in %. Hinweis: Der Oberbegriff „Sonstiges“ enthält hier Themenbereiche, die sich nicht thematisch als auch numerisch signifikant (mindestens 15 Erwähnungen) zu einem thematischen Oberbegriff zusammenfassen ließen.

 

Oberbegriff

Gesamt (%)

Davon mit europäischem Autor (%)

Davon mit amerikanischem Autor (%)

Geographie

205 (21,9)

155 (75,6)

31 (15,1)

Geschichte/Kultur

136 (14,5)

94 (69,1)

37 (27,2)

Bergbau

95 (10,1)

74 (77,9)

20 (21,1)

Landwirtschaft

95 (10,1)

76 (80,0)

19 (20,0)

Medizin

66 (7,0)

53 (80,3)

12 (18,2)

Handel

63 (6,7)

60 (95,2)

2 (3,2)

Finanzen

50 (5,3)

43 (86,0)

5 (10,0)

Geologie

43 (4,6)

33 (76,7)

8 (18,6)

Botanik

35 (3,7)

29 (82,9)

6 (17,1)

Demographie

31 (3,3)

22 (71,0)

8 (25,8)

Bauwesen

30 (3,2)

20 (66,7)

7 (23,3)

Sprache

20 (2,1)

10 (50,0)

10 (50,0)

Zoologie

20 (2,1)

18 (90,0)

1 (5,0)

Expedition

16 (1,7)

13 (81,3)

3 (18,8)

Sonstiges

32 (3,4)

24 (75,0)

6 (18,8)

Tab. 2: Verteilung der thematischen Oberbegriffe insgesamt (Anzahl und in Prozent relativ zur Gesamtanzahl der den Erwähnungen zugeordneten Oberbegriffe) und differenziert nach Werken europäischer und amerikanischer Autoren (Anzahl und in Prozent je relativ zur Gesamtanzahl der den Erwähnungen zugeordneten Oberbegriffe) und differenziert nach Werken europäischer und amerikanischer Autoren (Anzahl und in Prozent je relativ zur Gesamtanzahl an Erwähnungen pro Oberbegriff).

Ein neues Bild der Neuen Welt

Als Alexander von Humboldt seine Amerikareise antrat, hatte die jahrhundertelange Kontroverse, die später durch die einflussreiche gleichnamige Studie des Historikers Antonello Gerbi (1904–1976) als „Disputa del Nuovo Mondo“ bekannt geworden ist9, längst eine nie dagewesene Schärfe erfahren. Der französische Naturforscher Georges Leclerc de Buffon hatte in seiner Histoire naturelle générale et particulière auf Grundlage seines Paradigmas von der Entwicklung der Lebewesen als Folge klimatischer Veränderungen als Erster versucht, die Inferiorität Amerikas und seiner Bewohner wissenschaftlich zu begründen. Er kam zu dem Schluss, dass die Neue, die später als die Alte Welt aus den Tiefen des Meeres emporgestiegen sei, aufgrund des noch feuchten Bodens und der ungesunden Luft die Entwicklung von Lebewesen behindere. Für ihn stand fest, dass einheimische Tiere und Menschen gleichermaßen sowohl körperlich als auch geistig unterentwickelt sein mussten. Eine Zuspitzung bzw. Radikalisierung dieser Ideen erfolgte bereits kurze Zeit später durch Cornelius de Pauw, der mit seinen in Berlin 1768 erschienenen Recherches philosophiques sur les Américains, ou mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine eine weltweit geführte akademische Debatte auslöste, in deren Verlauf sich in Europa eine Position durchsetzte, in der die Indianer und Kreolen aufgrund eines „climat ingrat & contraire à l’espèce humaine“10 als geschichts- und kulturlose, gefühlskalte und körperlich degenerierte Wilde diffamiert wurden. Derlei Thesen, die großen Einfluss u. a. auf die Schriften von Guillaume-Thomas Raynal, William Robertson, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel ausübten, konnten freilich nicht lange ohne Widerspruch bleiben. Zahlreiche europäische und amerikanische Gelehrte wie etwa Antoine-Joseph Pernety, Thomas Jefferson, José Hipólito Unanue y Pavón, Francisco Javier Clavijero und José Antonio de Alzate y Ramírez veröffentlichten Gegenpositionen, die Amerika von dem Stigma einer grundlegenden Inferiorität zu befreien versuchten. Mit Alexander von Humboldt betrat schließlich ein Autorentyp der sich bereits im Ausklang befindenden11 République des Lettres die Bühne, der, anders als viele europäische Aufklärer, seine Erkenntnisse nicht auf eine ausschließlich auf andere Texte und intertextuelle Netzwerke bezogenen Methode gründete, sondern eigene, im Verlauf seiner Amerikareise erhobene, empirische Forschungsergebnisse berücksichtigte. Im Gegensatz zu vielen seiner europäischen Kollegen stand Humboldt zudem anderen Strömungen des aufklärerischen Denkens aufgeschlossen gegenüber. Im Essai äußert sich dies beispielsweise in seiner unvoreingenommenen, intertextuellen Einbeziehung von Vertretern des kreolischen aufklärerischen Denkens (Clavijero, Velázques, León y Gama, Alzate y Ramírez). Diese Autoren standen in einer Linie mit anderen amerikanischen Gelehrten, welche die europäischen Aufklärer mit deren bestenfalls oberflächlichem Wissen über die indigenen Handschriften und Bilderzyklen konfrontierten und sie ihrerseits über die Grenzen ihres Wissens aufklärten. So widersprach beispielsweise Clavijero in seiner Historia antigua de México der eurozentrischen Sichtweise, die antike europäische Kultur Griechenlands und Roms stehe über der Amerikas und vertrat die Ansicht, die alten indianischen Kulturen seien mit denen im antiken Mittelmeerraum vergleichbar.12 Auch bei Humboldt selbst zeigt sich in vielen seiner geschichtlichen Ausführungen der Versuch einer Widerlegung der seinerzeit weitverbreiteten Überzeugung von einer kulturellen Überlegenheit Europas gegenüber allem Nicht-Europäischen. Im sechsten Kapitel des zweiten Buches würdigt er z. B. nicht nur umfänglich das frühe technische Wissen der altmexikanischen Kulturen, sondern stellt dieses im Einzelnen sogar über das der frühen griechischen und römischen Kultur.

Les Toltèques introduisirent la culture du maïs et du coton; ils construisirent des villes, des chemins, et surtout ces grandes pyramides que nous admirons encore aujourd’hui, et dont les faces sont très-exactement orientées. Ils connoissoient l’usage des peintures hiéroglyphiques; ils savoient fondre des métaux et tailler les pierres les plus dures; ils avoient une année solaire plus parfaite que celle des Grecs et des Romains.13

In diesem Zusammenhang ist Humboldts gleichwertige und differenzierte Behandlung europäischer und amerikanischer Wissenschaftler hervorzuheben. Im Gegensatz beispielsweise zu de Pauw, der Kreolen die Fähigkeit zu wissenschaftlicher und geistiger Tätigkeit absprach, setzt sich Humboldt im Essai politique unabhängig von der Abstammung oder Herkunft der Autoren mit deren Forschungsergebnissen kritisch analysierend auseinander und begegnet seinen amerikanischen Kollegen auf Augenhöhe, d. h. von Wissenschaftler zu Wissenschaftler. Er zeichnet ein Bild von Kreolen, das in überwiegender Weise von ihrem hohen Wissensstand auf den Gebieten der Kultur und Naturwissenschaften zeugt und wendet sich entschieden gegen die These klimatischer Einflussnahme auf deren Intellekt.14 Im Kontext seiner geodätischen und astronomischen Untersuchungen hebt Humboldt z. B. die genauen Messergebnisse des kreolischen Wissenschaftlers Joaquín Velázquez Cardenas y León hervor, den er als bedeutendsten Geometer Neuspaniens Ende des 18. Jahrhunderts würdigt. Im direkten Vergleich mit Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche, der in San José del Cabo den Durchgang der Venus beobachtet hatte, setzt Humboldt die wissenschaftlichen Leistungen des Kreolen nicht nur auf gleichen Rang mit denen seines europäischen Kollegen, sondern bewertet sie sogar höher.15 Im Essai politique finden einerseits Werke europäischer Autoren wie Guillaume-Thomas Raynal oder William Robertson Eingang, die vermeintlich objektive und aktuelle Erkenntnisse über den Neuen Kontinent und seine Geographie, Kultur, Geschichte oder den Handel liefern. Andererseits werden amerikanische Autoren wie Francisco Javier Clavijero oder José Antonio Alzate y Ramírez behandelt, die sich mit den Perspektiven der geistigen und politischen Emanzipation Amerikas von Europa beschäftigten. Auch wenn die Schriften amerikanischer Gelehrter wie Clavijero oder Garcilaso de la Vega bereits vor Humboldt Einzug in Europa gehalten hatten, entfalteten ihre aufklärerischen Ideen ihr volles Potenzial erst in Verbindung mit Humboldts amerikanischen Reisewerken. Dabei dürften mit Sicherheit Humboldts europäische Abstammung und seine Berühmtheit eine große Rolle gespielt haben. Sein Essai politique nahm hierbei eine vermittelnde Rolle zwischen den Welten ein, indem er indirekt auf das Vorhandensein verschiedener historischer Kontexte hinwies, aus denen unterschiedliche Blickwinkel und Wissensformen entstanden.

Literatur

Gerbi, Antonello: La disputa del Nuovo Mondo. Storia di una polemica (1759–1990). Milano: gli Adelphi 2000.

Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tome premier. Paris: F. Schoell 1811.

Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tome deuxième. Paris: F. Schoell 1811.

Krumpel, Sebastian: Alexander von Humboldt – Zwischen Europa und Amerika. Bern, Schweiz: Peter Lang Verlag 2019, S. 194 f., S. 205–209, S. 289–361.

Leitner, Ulrike: Alexander von Humboldts Tagebuchnotizen auf dem Weg von Mexiko-Stadt nach Veracruz, S. 8.

Müller, Irmgard: Alexander von Humboldt – ein Teil, Ganzes oder Außenseiter der Gelehrtenrepublik? In: Knoche, Michael/Ritter-Santini, Lea (Hrsg.): Die europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik. Göttingen: Wallstein Verlag 2007, S. 193–209.

Pauw, Cornelius de: Recherches philosophiques sur les Américains, ou mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine. Tome second. Berlin: Decker.

Rössner, Michael: Die Literatur Neu-Spaniens bis zur Unabhängigkeit Mexikos. In: Rössner, Michael (Hrsg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 1995, S. 110–116.

1 Leitner, Ulrike: Alexander von Humboldts Tagebuchnotizen auf dem Weg von Mexiko-Stadt nach Veracruz, S. 8.

2 Hierbei handelt es sich um den Geburtsort der Autoren und nicht um den Publikations- oder Wohnort. Bei den Autoren wurde zudem auch die Herkunft der Ko-Autoren miteinbezogen. Zur Vereinfachung und besseren Übersichtlichkeit wird bei der Angabe der Herkunft der Autoren auf die heutige Bezeichnung der Länder zurückgegriffen, auch wenn diese zum Teil zur Zeit der Erstellung der jeweiligen Werke so noch nicht existierten.

3 Für eine detaillierte Übersicht dieser Werke und ihrer Autoren sowie die Angabe, in welchen Bänden, Büchern, Kapiteln und Seiten diese im Essai politique eingebunden sind, siehe Krumpel, Sebastian: Alexander von Humboldt – Zwischen Europa und Amerika. Bern, Schweiz: Peter Lang Verlag 2019, S. 289–361.

4 Der Begriff ‚Erwähnungen‘ bedeutet, wie oft auf die jeweiligen Werke verwiesen wurde.

5 Für weitergehende Informationen zu den von Humboldt herangezogenen Fachzeitschriften siehe Krumpel, Sebastian: Alexander von Humboldt – Zwischen Europa und Amerika. Bern, Schweiz: Peter Lang Verlag 2019, S. 205–209.

6 Eine graphische Übersicht dieser Verhältnisse ist in Abbildung 2 zu finden (dargestellt sind gerundete Prozentwerte zur besseren Übersichtlichkeit), eine tabellarische Übersicht findet sich in Tab. 2.

7 Für weitergehende Informationen zum methodischen Vorgehen siehe Krumpel, Sebastian: Alexander von Humboldt – Zwischen Europa und Amerika. Bern, Schweiz: Peter Lang Verlag 2019, S. 194 f.

8 Vgl. ebd. S. 198.

9 Vgl. Gerbi, Antonello: La disputa del Nuovo Mondo. Storia di una polemica (1759–1990). Milano: gli Adelphi 2000.

10 Pauw, Cornelius de: Recherches philosophiques sur les Américains, ou mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine. Berlin: Decker, Tome second, S. 167.

11 Vgl. Müller Irmgard: Alexander von Humboldt – ein Teil, Ganzes oder Außenseiter der Gelehrtenrepublik? In: Knoche, Michael/Ritter-Santini, Lea (Hrsg.): Die europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik. Göttingen: Wallstein Verlag 2007, S. 193–209, S. 193.

12 Vgl. Rössner, Michael: Die Literatur Neu-Spaniens bis zur Unabhängigkeit Mexikos. Rössner, Michael (Hrsg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 1995, S. 110–116, S. 111.

13 Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tome premier, S. 367.

14 Vgl. Humboldt, Alexander von: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Tome deuxième, S. 24.

15 Vgl. ebd. S. 22 ff.

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